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Mutterpass - 1970 bis heute 

Vorsorge oder Lenkung?

Seit den 1970er Jahren wurde die ärztliche Kontrolle über fast alle Frauen ab Beginn der Schwangerschaft durchgesetzt. Der Mutterpass begründete das ärztliche Monopol zur „Behandlung und Kontrolle" von schwangeren Frauen. Hebammen wurden dadurch fast vollständig ausgeschaltet und mit ihrem Fachwissen an den Rand gedrängt. So war die gesetzliche Regelung, dass die Hebamme autorisiert ist, eine Geburt alleine zu begleiten, fast in Vergessenheit geraten. Sie muss einen Arzt nur hinzuziehen, wenn es zu Komplikationen kommt.

Umgekehrt ist es Ärzten nicht erlaubt, Geburten durchzuführen, ohne dass eine Hebamme anwesend ist. Das ist die sogen. Hinzuziehungspflicht, die nur für Ärztlnnen gilt.

So sah ein Mutterpass von 1970 aus:

mutterpass 1970

 

 

 

 

 

Bis in die 1970er Jahre gab es ein oktavheftgroßes Heft, in dem die  erforderlichen Daten einer schwangeren Frau erfasst wurden. Z. B. Blutgruppe, Gewicht, Urin, HB-Wert, Rhesusfaktor. Wenige Abfragen reichten aus. Sie sind bis heute die Säulen einer sinn- und maßvollen Vorsorge. Insgesamt wurden damals 17 Risikofaktoren benannt.

Mittlerweile hat sich die Zahl vervielfacht. Zur Zeit sind 52 Risikofaktoren im Mutterpass definiert. Es können über 100 Tests in der Arztpraxis angeboten und gekauft werden (2017).

Finanzieller Anreiz führte zur Etablierung der Arztvorsorge
„Um Frauen zur Vorsorge in die Frauenarztpraxen zu lenken, wurde von den Krankenkassen von 1965 bis 1982 ein finanzieller Anreiz geschaffen. Für einen ausgefüllten Mutterpass mit 10 Untersuchungsterminen bekamen Frauen DM 100,- vergütet.“(1)

Die Erweiterung des Mutterpasses führte Schritt für Schritt zu einem für Laien kaum durchschaubaren ärztlichen Mess-, Kontroll- und Normierungskatalog. Fachausdrücke, können Laien kaum verstehen. Die Gewichtung eines bescheinigten Risikos ist ebenfalls nicht möglich.
Die Lenkung von Frauen Richtung Klinikgeburt war ein Nebeneffekt der Gewöhnung (abgesehen von damals 10 Tagen Wochenbett und Pflege im Krankenhaus, welche die bereits bröckelnde Familienunterstützung ersetzte).

Diese Art der Vorsorge - so sehen wir rückblickend - war und ist wirksamer Hebel, um schwangere Frauen an den Gang in die gynäkologische Praxis zu gewöhnen und die Klinikgeburt zu etablieren.

Der einsetzende Ansturm auf die Kliniken konnte kaum bewältigt werden. So kam die „programmierte Geburt" gerade rechtzeitig von Irland aufs Festland.

Gleichzeitig wurde der selbstständige Hebammenberuf, der unabhängig vom Arzt die gesamte Schwangerschaft bis zur Stillphase begleiten kann, fast völlig ins Abseits gedrängt. In Kliniken werden Hebammen gebraucht. Im arztgeleiteten Kreißsaal „leiten" sie Geburten, doch weisungsbefugt sind ÄrztInnen. Ein vorprogrammiertes Konfliktfeld - auf Kosten der gebärenden Frauen und der Kindergesundheit zeichnet sich ab.

Der Einzug der Technik schwächte die Geburtsarbeit von Frauen und die Erfahrungskompetenz von Hebammen. Inzwischen hatte das Personal, einschließlich der Hebammen Angst, ohne technische Überwachung Entscheidungen zu fällen. Verlust von Erfahrungswissen und Angst auf allen Seiten sind mitverantwortlich für ca. 250 000 Kaiserschnittoperationen pro Jahr.

Ein deutliches Zeichen für eine gravierende Fehlentwicklung zeichnet sich im Mutterpass ab.
Mehr als 500 Eintragungen, Werte und Kurven sind im Mutterpass vorgesehen. Die schwangere Frau wird aufgefordert, den Pass stets bei sich zu tragen. Die meisten Fachbegriffe sind unverständlich. Bei mehr als 75 % der Frauen werden Risiken angekreuzt. Das verändert das Bewusstsein der schwangeren Frau von sich selbst, alarmiert, macht Stress, verführt zu fragwürdigen kostenpflichtigen pränataldiagnostischen Tests und überschattet in vielen Fällen die längste Zeit der Schwangerschaft und der Geburt.

Die Arztvorsorge in der Schwangerschaft trägt zur hohen Zahl der Risikoschwangerschaften bei. Ärzte haben Angst, irgendetwas zu übersehen oder zu unterlassen, wofür sie meinen, regresspflichtig gemacht werden zu können. Bescheinigt der Arzt eine Risikoschwangerschaft, so eröffnen sich ihm deutlich mehr Kontrollmöglichkeiten. Er darf mehr Untersuchungen und Tests durchführen und mit den Krankenkassen abrechnen.

KritikerInnnen sagen, der heutige Mutterpass führe zu einer pathologischen Sichtweise von Schwangerschaft und Geburt. Damit ist gemeint, dass die lückenlose Kontrolle der schwangeren Frau zu einer Verunsicherung führt mit der Folge einer Beeinträchtigung des Selbstvertrauens, das bis zur Geburt schrittweise untergraben wird.

Dabei ist ein wesentlicher Punkt, dass dem Mutterpass nicht zu entnehmen ist, was Vorsorge, was Pränataldiagnostik (PND) und was Ige-Leistungen sind. Eine schwangere Frau handelt verantwortlich, wenn sie die Vorsorge für sich und ihr Kind in Anspruch nimmt. PND und IGe-L sind Angebote des Gesundheitsmarktes. Sie haben mit Vorsorge nichts zu tun. Wie kann eine Frau das unterscheiden, wenn im Mutterpass alles vermischt aufgeführt ist?

Viele Frauen gehen davon aus, dass sie das, was angeboten wird, auch in Anspruch nehmen müssen, um bestmöglich für ihr Baby zu sorgen, auch wenn sie dafür selbst zahlen.
Eine Umfrage der Bertelsmannstiftung 2015 bei jungen Frauen, zeigt, dass genau das von 95 % der schwangeren Frauen angenommen wird.

Dass es kalkuliertes Geschäft mit der Unwissenheit werdender Eltern ist, können sie nicht ahnen. Dass für den Verkauf von PND und IGe-L das Personal in Arztpraxen extra geschult wird, wissen sie auch nicht.

Mutterpass - tragbare „Karteikarte" der Arztpraxis?
„Bei der Entstehung und der Ausdehnung des Arzt-Mutterpasses haben Hebammen nicht mitgewirkt. Alle bisherigen Versuche zur Reform scheiterten. Die Mitwirkung von Hebammen im G-BA, (2) obgleich vom Arzt-Mutterpass in ihrer Berufsausübung unmittelbar betroffen, ist nicht vorgesehen.“ (1, S. 192)

Der Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF), dem Hunderte Frauenärztinnen angehören, erarbeitete Vorschläge zur Reform des Mutterpasses. 2011 teilte der AKF bei einer Tagung öffentlich mit, dass aufgrund der „Gender-Situation“ im G-BA die überfälligen Reformvorschläge abgelehnt worden seien.
Im Klartext: Die männlichen Verbandsvertreter der Gynäkologenverbände bilden im G-BA die Mehrheit und lehnen Reformen ab.

Andererseits schafft die jetzige Situation Klarheit darüber, was die Verfasser des Mutterpasses wollen. Es fragt sich, wie lange es dauert, bis werdende Eltern das durchschauen.

Hoffen wir, dass die geburtshilflich tätigen Hebammen als Berufsgruppe trotz existentieller Bedrohung durchhalten. Sie nehmen zusammen mit werdenden Eltern eine Schlüsselrolle ein in einem überfälligen Reformprozess.

Festzuhalten ist: Der Mutterpass ist ein persönliches Dokument. Er ist Eigentum der schwangeren Frau und Mutter.

Unsere Geburtskultur
Die Qualität unserer Geburtskultur offenbart sich da, wo es auf Respekt und Achtung der Geschlechter untereinander und gegenüber den Kindern, die geboren werden wollen, ankommt. Dort hinblicken, wo das Leben beginnt ist dringend erforderlich: Schwangerschaft, Kreißsaal, Frühchenstation und Wochenbett.

(1) Zitate aus: Behrmann I.; Bös, U.: Die Geburt meines ersten Kindes - Geburtserfahrungen, Geburtsakten und Erläuterungen schwerer Geburten in der Klinik. Fidibus 2013, S. 176
(2) G-BA: Gemeinsamer Bundesauschuss. Das ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenkassen etc. Hebammen haben keinen Sitz und keine Stimme.

12/2022

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