Kaiserschnitt – Dokumentation arte 2016 – Rezension
Kaiserschnitt – Geburt der Zukunft?
Angesichts einer Kaiserschnitt-Dokumentation im September 2016 (arte/NDR), wurde die nachfolgende Rezension verfasst. Sie ist noch gültig, auch wenn der Beitrag selbst nicht mehr aufrufbar ist:
Der Film beleuchtet den Kaiserschnitt – seine Hintergründe, seine medizinischen Vor- und Nachteile und die Position der Frauen in unterschiedlichen Ländern angesichts dieser Entwicklung. Die Schwangere verliert ihre Zeit der guten Hoffnung an einen Entscheidungsprozess, an die Ökonomisierung ihrer selbst und die Beantwortung ihrer Fragen und Ängste durch Technik. Die Position des Kindes findet ebenso Beachtung: die Medizin muss sich von der veralteten Vorstellung lösen, dass der Kaiserschnitt der bessere Weg für das Kind darstellt - Studien zeigen eine andere Wahrheit.
Ist der Kaiserschnitt die Geburt der Zukunft?
Die Fakten:
- Für Mütter stellt der Kaiserschnitt seit jeher ein höheres Risiko dar. Neue Forschungen zeigen, dass er auch für das Kind Ursache für verschiedene Erkrankungen sein kann, dass es NICHT egal ist, wie wir geboren werden.
- Studien belegen – Kaiserschnittkinder haben ein erhöhtes Risiko für Allergien, Asthma und andere Autoimmunerkrankungen. Im Falle des Typ 1 Diabetes erhöht sich bei Erkrankung eines Elternteils das Risiko für das Kind selbst zu erkranken durch die Kaiserschnittgeburt um 50 %.
- Der Zeitpunkt für geplante Kaiserschnitte liegt meist zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Atemwegserkrankungen oder Probleme der Atemanpassung sind auf Grund der Unreife der Lungen die Folgen.
Warum steigt trotz dieses Wissens die Kaiserschnittrate weiter, die sich in Deutschland in den letzten 25 Jahren auf 32 % verdoppelte?
Die ökonomisierte Medizin spricht klar gegen die Gesundheit von Mutter und Kind und für die Geburt per Kaiserschnitt. „Hier entsteht ökonomischer Druck und juristischer Druck auf etwas, was eigentlich nur mit Mutter und Kind zu tun hat.“ (Prof. Frank Louwen)
Prof. Abu Dakn zeigt die Problematik der natürlichen Geburt durch die höheren Personalkosten auf – um Kaiserschnitte zu vermeiden, bräuchte es Hebammen mit Zeit und Ärztinnen und Ärzte, die sich den Frauen hinwenden können. Diese sprechende und handelnde Medizin, in der stille Präsenz gefordert würde, ohne akut etwas zu tun, ist ökonomisch nicht lohnend.
Ebenso spricht die Planbarkeit der Geburt für den Kaiserschnitt – viele Kaiserschnitte in wenig Zeit. So wird der Kaiserschnitt zum Geschäftsmodell. Solange ein Kaiserschnitt höhere finanzielle Anreize liefert, werden sich die extrem hohen Raten nicht ändern.
Ein anderes Problem zeigt sich in dem Verlust des Wissens der Geburtshilfe. Forschungen aus den USA zeigen, dass bei einer Kaiserschnittrate von 40 % das Wissen und somit die Grundlage jeglichen Handelns und Nichthandelns unter der Geburt verloren geht. Junge Ärzte erlernen den Kaiserschnitt, haben jedoch durch mangelnde Wissensvermittlung kein Wissen über die naturgemäßen (physiologischen) Abläufe oder geburtshilfliche Möglichkeiten.
„Diese Unannehmlichkeiten sind nicht nötig. Der Schmerz, der ganze Stress, die Hektik. Das muss nur erleiden, wer es unbedingt will.“ (Dr. Marcelle Ayres; Gynäkologin, Rio de Janeiro). Ebenso sei die natürliche Geburtsbegleitung für viele Belegärzte von deutlichen wirtschaftlichen Einbußen begleitet: „Es ist die Logistik einer normalen Geburt. Also die Wehen können zum Beispiel früh morgens einsetzen, während man [als Arzt] vielleicht in einem ganz anderen Krankenhaus ist. Dann muss man durch die ganze Stadt, um die Geburt durchzuführen. Die Zeit, die man bei der Patientin bleibt während den Wehen, das können 12, 18, 24 Stunden sein. An solch einem Tag bleibt die ganze andere Arbeit liegen. Das alles macht es für den Arzt so unangenehm“.
Prof. Frank Louwen zeigt ein weiteres Problem auf: „Es gibt so diesen Spruch: Es wurde noch nie jemand wegen eines Kaiserschnitts verurteilt, den er zu viel gemacht hat, aber wohl, wegen einer vaginalen Geburt, die möglicherweise durch einen Kaiserschnitt ein anderes Ergebnis ergeben hätte. Das alles macht Angst und hat allerdings dazu geführt, dass mittlerweile die Schadenssummen in der Geburtshilfe die mit Abstand höchsten sind, die in Deutschland verzeichnet werden. Und so gibt es mittlerweile fast keine Versicherung mehr in Deutschland, die Geburtshelfer versichert “.
Weltweit ist zu beobachten: dort wo die Zahl der Hebammen sinkt, steigt die Kaiserschnittrate. Die Forderung der Hebammen: persönliche Zuwendung muss einen höheren Stellenwert haben als Technik.
Der Trend geht dahin, die Kaiserschnittgeburt „erlebnisorientiert“ anzubieten. In diese Erlebnisorientierung fließen Ideen ein, die die natürliche Geburt und ihre Vorteile für Mutter und Kind imitieren sollen: so wird in manchen Kliniken den Eltern angeboten, die Kinder mit dem Vaginalsekret der Mutter einzureiben, um eine günstige Startbedingung für das kindliche Immunsystem zu schaffen.
Andere setzten auf die „Kaisergeburt“, bei der die Frau bei der Operation zusehen kann und vom Arzt angeleitet wird, das Baby mit auf die Welt zu schieben, um die Frauen näher an das Geburtsgeschehen zu führen und bspw. Depressionen vorzubeugen.
Wo bleibt dabei die Frau? Was bedeutet das für die Gesellschaft und für jede einzelne Frau, wenn sie sich selbst und ihre Geburt als Produkt versteht?
Eine schwierige Aufgabe für die Medizin, die Geburtshilfe, die Frauen, und letzten Endes der Gesellschaft. „Ich behaupte sogar, dass wir in den nächsten Jahren immer mehr verstehen werden, dass es sogar ein Nachteil ist, nicht natürlich geboren worden zu sein.“ (Prof. Abu Dakn, Chefarzt SJK Berlin).
Maria Casado-Bernert
10/2022